Martin Kuen kann sich gut in den Missouri Verteidiger Michael Sam hineinversetzen. Der SEC Defensive Player Of The Year hat sich in Interviews mit der New York Times und ESPN zu seiner Homosexualität bekannt und vor allem mit dem Zeitpunkt seines Outings, nämlich einige Monate vor dem NFL Draft, für weltweites Aufsehen gesorgt. Sam könnte der erste NFL Spieler werden, der offen homosexuell lebt. Es wäre auch höchste Zeit, dass das passiert, meint nicht nur Kuen, der zwar nie in die Verlegenheit geriet Profi zu werden, aber mit der Frage eines Outings als Aktiver ebenfalls konfrontiert war.
Kuen war, so sagt er selbst, "bis ich 27 Jahre alt war heterosexuell unterwegs". Er wusste zwar schon immer, dass er ein Interesse an Männern hat, sich vor seinem 27. Lebensjahr aber nicht recht getraut dem auch nachzugeben. Es kam für ihn aber einmal der Punkt, an dem er sich einfach zu sich selbst sagte: "Was soll’s?! Ich möchte nicht 60 oder 70 Jahre alt werden, auf mein Leben zurückblicken und möglicherweise einer vergebenen Chance hinterher weinen, nur weil ich davor Angst hatte, was andere darüber denken könnten." 
Walter Reiterer sprach mit Martin Kuen über seine Erfahrungen, über das Leben als schwuler Footballspieler und über "den Fall Sam", der nicht nur für ihn von besonderem Interesse ist.
Walter Reiterer: Wann hattest du dich dazu entschlossen, dich deinen Mitspielern gegenüber zu outen? Gab es einen bestimmten Anlass?
Martin Kuen: Es war so, dass ich sicher die ersten Jahre meines schwulen Daseins leise getreten bin. Ich habe das Thema "Freundin" erfolgreich vermieden, obwohl ich damals schon einen fixen Freund hatte. Die Frage, ob ich denn eine Freundin habe, konnte ich ja stets – ohne schlechtes Gewissen und ohne zu lügen – meinen Mannschaftskollegen gegenüber verneinen. Ich habe für mich sicher einige Zeit gebraucht, um sicher zu werden und um fix dazu stehen zu können. Ich habe mich zuerst bei meinen engsten Freunden aus der Schulzeit anvertraut und die Reaktion war ausschließlich positiv. Mit diesem Rückhalt habe ich mich dann auch langsam innerhalb meiner Familie geoutet. Die Reaktionen hier waren gemischt, aber nach anfänglichen Schwierigkeiten haben es alle akzeptiert und heute ist das kein Thema mehr. Dass ich mit meinem Partner bei Familienevents dabei bin, ist nun normal.
Mein bester Freund Armando Piedra, der mich damals vom Rugby zum Football bei den Dragons gebracht hat, wusste es natürlich schon. Weitere Mitspieler, welche ich über die ersten Jahre besser kennen gelernt hatte und zu meinen Freunden wurden, denen habe ich es auch gesagt. Einen bestimmten Zeitpunkt gab es also nicht wirklich. Ich habe mich nach und nach, immer wenn das Thema Beziehung aufkam, bei denen die mich gefragt haben geoutet. Es war die Zeit einfach gekommen, wo ich endlich zufrieden mit mir selbst war und ich wusste, dass echte Freunde kein Problem damit haben. Bei meinen Mitspielern war die Resonanz immer positiv. Viele schätzten meine Ehrlichkeit und Offenheit ihnen gegenüber und ich freue mich zu sagen, dass diese Freundschaften bis heute halten, auch mit den Spielern die Jahre vor mir schon aufgehört haben zu spielen. So gesehen gab es keinen bestimmten Anlass als solchen in Hinblick auf mein Coming Out. Es hat sich einfach im Laufe der Zeit ergeben. Und ab einer gewissen Zeit und Anzahl an Personen die es wussten, denke ich musste ich mich nicht mehr extra outen. Es haben einfach die meisten dann schon gewusst und es war eigentlich kein Thema.
Wie haben die Spieler und der Verein reagiert?
Es ist wie gesagt eigentlich und Gott sei dank nie wirklich ein Thema gewesen. Die Spieler mit denen ich darüber geredet habe haben mich wie erwähnt unterstützt und da es im Sport ja nur darum geht welche Leistung beim Training und bei den Spielen am Feld erbracht wird und nicht welche Leistungen mit wem in welchem Bett, gab es nie eine echte spürbare Reaktion. Was ich jedoch gerne hervor heben möchte ist, seitdem die meisten meiner Mitspieler es wussten, wurden – wie es im Sport so ist – die Sprüche wie "das ist ja voll schwul" beim Training stark reduziert und sollte es mal doch passiert sein, konnte ich immer die "Sorry-Blicke" meiner Kollegen danach in meine Richtung blickend sehen oder nach dem Training ein "Tut leid, du weisst ich hab das nicht so gemeint" hören. Es war sicher auch für einige ein Lernprozess, da ja viel zu wenig über das Thema geredet wird und somit ist es natürlich schwer eine Verhaltensänderung zu erwarten, wenn sich keiner darüber Gedanken macht oder machen muss. Da, so denke ich, konnte ich bei den Dragons doch schon einiges bewirken.
Ein "offizielles" Outing nach außen hin gab es nicht, geheim hast du es aber auch nicht gehalten?
Ab einem gewissen Zeitpunkt war ich mit mir selbst so weit im Klaren, dass ich es denen die mich gefragt habe einfach grade aus gesagt habe. Auf die Nase gebunden habe ich es aber niemand. Es ist so wie mit allen Beziehungen. Im Prinzip interessiert es mich ja nicht, wer mit wem was im Bett oder sonst wo aufführt. Ich denke deswegen interessiert es auch sonst die anderen nicht, was ich mache. Sollte es zumindest nicht. Wer zu sehr im Leben anderer herumwühlt, der lebt anscheinend selber nicht genug (lacht). Dieser Aspekt meines Lebens ändert ja nichts an dem Menschen welcher ich bin, es ist nur ein Teil meiner Person. Es ändert auch nichts daran wie ich mich am Feld am Gameday verhalte – Play to win, that’s it. 
Ich glaube im Großen und Ganzen nehmen wir uns, was unsere Sexualität angeht, alle vielleicht ein wenig zu wichtig und machen uns zu viele Gedanken darüber, was wer von uns weiß oder deswegen denkt. Es ist schade, wenn eine Person rein auf seine sexuellen Vorlieben reduziert wird, da es nur ein Mosaikstein innerhalb eines viel größeren Bildes ist. Das ist wie wenn du dir ein Bild mit einer Lupe ansiehst. Wer nur ins Detail sieht, wird niemals die ganze Pracht des gesamten Kunstwerkes erkennen können. 
Gab es eigentlich Gegner, die das wussten und als Provokation beim Trash Talk verwendet haben?
Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Mir ist kein solcher Fall bekannt. Es wird sicher im Laufe einiger Spiele über die letzten 13 Jahre wo ich als Spieler am Feld war Situationen gegeben haben, wo der eine oder andere schwulenfeindliche Satz gefallen ist, jedoch nie bewusst in meine Richtung. Also nein.
Was denkst du über das Outing von Michael Sam vor dem NFL Draft?
Ich finde das extrem mutig von dem jungen Mann. Es ist ja nicht so, dass es hier um nichts in seinem Leben geht, sondern um ein Ticket in die NFL. Damit um ein Leben und einem Lebenstraum mit einem Job, in dem man wirklich viel Geld verdienen kann. Er hat meinen vollsten Respekt und ich wünsche ihm, dass er es in die NFL schafft.
Ist das Outing eher eine Gefahr übergangen zu werden, oder erhöht es sogar seine Chancen?
Ich denke, seine Chancen werden sich dadurch nicht unbedingt erhöht haben. In einer perfekten Welt ginge es nur darum, was für Leistungen am Feld und nicht abseits dessen erbracht werden. Wir beide wissen aber, dass wir noch nicht in so einer Welt leben und obwohl einige Staaten in den USA sich schon sehr gut weiterentwickelt haben was das Thema Homosexualität angeht, ist es immer noch, speziell im Sport, leider ein Tabu-Thema und ein rotes Tuch für einige Menschen. Ich glaube das ist entweder weil diese Personen zu wenig Bildung bislang genossen haben, bzw. einige unter einem gesellschaftlichen Druck leben, in dem sie sich keine eigene Meinung bilden können und damit ein Mitläufer Dasein führen. Wer auf die Zustände bei anderen verweist, lenkt somit gerne das Augenmerk von sich und seinen Problemen ab.
Aber um auf Michael Sam zurück zu kommen. Er kann genau so übergangen werden wie jeder anderer im Draft – wenn es nach spielerischen Leistungen geht – und alleine danach sollten die Personalentscheidung in einer heilen Welt getroffen werden. Er muss seine Chancen nutzen wie jeder andere auch. Leichter wird es meiner Meinung nach sicher nicht. NFL-Vereine, dessen General Manager oder Coaches keinen Schwulen in ihren Reihen haben wollen, werden sagen er sei überbewertet oder passe nicht in ihr System hinein. Wer ihn nur nimmt weil er schwul ist, der tut sich selbst auch keinen Gefallen, weil er vielleicht dann wirklich nicht in das System hinein passt und was hat er dann davon, wenn er keinen Erfolg hat? Den wird er bitter notwendig haben, wenn viele Zuschauer ihn mit Argusaugen beobachten werden. Diese Geschichte kann sich also in zwei Richtungen entwickeln. Auf einer Seite er wird übergangen und alle sagen, es war wegen seinem Outing. Dies hätte sicher zur Folge, dass wir in den nächsten Jahren keinen solchen weiteren Fall zu hören oder sehen bekommen werden – was ich sehr bedauern würde. Oder anders – er wird aufgenommen und muss jeden Tag wahrscheinlich doppelt so hart trainieren und spielen, damit er Anerkennung bekommt. Sollte das nicht der Fall sein wird es möglicherweise von Seiten der schwulenfeindlichen Fans heißen, "war ja klar, die Schwuchtel bringt es nicht".  Er hat garantiert "the path least travelled" und den schwersten Weg gewählt und dafür hat er meinen allerhöchsten Respekt. Ich wünsche ihm den größtmöglichen Erfolg, damit dieses Thema auch endlich keines mehr sein muss.
Was stört dich als Homosexueller in/an Österreich am meisten?
Österreich ist sicher nicht perfekt und es gibt einiges was besser gemacht werden könnte, so wie in allen Bereichen in Gesellschaft und Politik, jedoch bin ich relativ zufrieden. Ein klein wenig nervt mich jedoch die Engstirnigkeit mancher Menschen, aber das ist nicht wirklich ein österreichisches Phänomen, sondern eines der Bildung oder ein Fehlen hiervon. Die Gleichstellung homosexueller Paare mit heterosexuellen wäre mir ein Anliegen. Es ist ja nicht so, als würden homosexuelle Paare die Ehen der Heterosexuellen dadurch zerstören, sie hätten nur dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen auch. Frauen durften früher nicht wählen und Afroamerikaner durften früher nicht im selben Bus wie Weiße fahren. Jetzt blicken wir zurück und denken uns: Was waren das für Zustände? In welchem Mittelalter haben die Menschen damals gelebt? Ich hoffe, dass das Thema Homosexualität bald in so eine Kategorie wie diese beide zuvor fallen wird und in Zukunft es einfach kein Thema mehr sein wird. 
Es hat sich also schon einiges getan aber da wir noch immer darüber reden müssen ist es eben noch nicht genug. 
Würdest du dir wünschen, dass sich homosexuelle Footballspieler in Österreich outen?
Ich würde es begrüßen, weil es vielleicht anderen jungen Sportlern Mut machen könnte, sich nicht minder zu schätzen als ihre Mitspieler. Homosexualität ist keine Krankheit, keine Behinderung und sollte keine Last sein. Es ist ganz normal. Wenn mehr Spieler den Mut aufbringen könnten um sich zu outen, nicht nur in Österreich und nicht nur in American Football, würde dieses Thema viel schneller von der Gesellschaft verarbeitet werden können und die Qual vieler junger Menschen könnte vermieden werden.
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Zur Person:
Martin Kuen wurde in New York als Sohn eines österreichischen Diplomaten im Juni 1973 geboren. In seinen ersten 14 Jahren ist er zwischen New York – Wien – New York – Washington D.C. – Wien alle paar Jahre hin und her gezogen. Im internationalen Schulsystem aufgewachsen lernte er die Liebe zum Sport kennen und in weiterer Folge in Wien ganz speziell die zum Rugby Sport. Nach geleistetem Präsenzdienst kehrte er erneut zum Rugby zurück und spielte insgesamt zehn Jahre im österreichischen Nationalteam. Ein Bachelor Abschluss in Business von der Webster University Vienna mit Auszeichnung in Management kam 1998 dazu. Nach Aufforderung seines engsten Schulfreundes Armando Piedra, ging er gemeinsam mit ihm zum Probetraining der frisch getauften Danube Dragons, wo er sofort ein zweites sportliches und familiäres Zuhause fand. Nach zwei Jahren Rugby und Football, entschied sich Martin bei den Danube Dragons zu bleiben und seine Rugbyschuhe an den Nagel zu hängen. Dreizehn Saisonen Football später freut er sich und ist stolz darauf sagen zu können, er habe Punter, Kicker, Tight End, Wide Receiver, sowie Defensive End und Defensive Tackle in der obersten Liga Österreichs der AFL, sowie einige Spiele als Punter in der EFL spielen dürfen. Sportlicher Höhepunkt war der Gewinn der Austrian Bowl im Jahr 2010. Martin lebt zusammen mit seinem Partner und zwei Hunden und arbeitet zurzeit in der Clubdiscothek Why Not.

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